Gesichte im Silbergarten

Silbergarten – so heißt ein Stück Park  in Paris, das Wolfgang Tietze einmal für sich entdeckt hat. Jardin d’argent wohl also, aber das hat eigentlich nichts zu bedeuten. Tietzes Silbergarten ist ein Ort, an dem wunderliche Dinge geschehen. Er liegt nahe, aber nicht auf der Hand, sondern irgendwo zwischen Erde und Himmel, näher dem Kopf als dem Körper. Der Silbergarten ist ein Seelengarten, der manchem versperrt scheinen mag. Dabei wandelt jede und jeder darin. Aber wer sieht schon, was ihm geschieht – im Leben?

Silbergarten ist kein Ort, sondern nur ein Wort: eine poetische Metapher für Bilder und Begegnungen. Der Maler, der sie gewählt hat, verhilft uns mit diesen zu jenen, weil er begabt ist – und wohl auch genötigt. Ins Bild setzen, was ihn anrührt und aufwühlt, was ihn schmerzt oder entzückt, was ihn verunsichert und umtreibt – das kann er, und das muss er tun, wie unter geheimem Zwang. Vor seinem inneren Auge drängen vage Wesenheiten nach Bezeichnung, die nicht zu begreifen sind. Auf Papier und Leinwand gibt er ihnen Gestalt, mit Farbe malt er uns aus, was nur er schauen, also erschaffen kann….

…..Es ist die Welt der menschlichen Regungen, die uns in solchen Bildern vor Augen geführt wird, die Seelenlandschaft, in der Zeit und Raum unwägbar sind. Mit Abstraktion oder Phantasie hat das nichts zu tun, eher schon mit Transzendenz und tieferem Realismus. Mit der Kunst des Sehers. Du sollst Dir kein Bild machen? Für Wolfgang Tietze ist dies kein Gebot, nicht einmal ein halbwegs akzeptabler Vorschlag. Im Gegenteil: Seit ein paar Jahren sucht er sich sogar fotografische Abbilder von Menschen, die schon lange nicht mehr am Leben sind, entreißt sie der Nacht des Vergessens und setzt sie unseren Blicken aus. Nicht ohne List, übrigens: Die elfenhaften Gestalten etwa, die unsere Sinne in seinen Silbergarten locken, entpuppen sich  – bei näherem Hinsehen – ja nicht nur als scheue Schatten nackter Mädchen, sie zeigen sich auch als fahle Farbschimmer unter ihresgleichen, umwoben von Lust und Furcht zugleich, von verzweifeltem Begehren, bitterer Melancholie oder anderen subtilen Aggregatzuständen der Seele. Empfindungen, wie es aussieht,  die sich im Alltag dem Erkennen nur allzu oft entziehen, unter der Hand des Malers aber zeichenhaft sichtbar werden können. So wird Unsagbares erfahrbar. Von dieser Art ist Tietzes Kunst. Bilder dieser Art bedürfen der Worte nicht.  Viele müssen – sonst liefen sie Gefahr, abgefälscht zu werden – ohne Titel bleiben. o. T. –  das sind in diesem Fall ganz zweifellos Teile des Innenlebens  von Wolfgang Tietze. Aber wo er einen Punkt macht, einen Farbton anschlägt, eine Linie zieht, kann der Betrachter auch ein Stück von sich selbst finden. Alles ist möglich.  Der Silbergarten birgt viele kunstvolle Gesichte von wunderlicher Wirklichkeit. Zu verstehen sind sie nicht, aber wer etwas erkennt, ist schon mittendrin.<<

Jan-Peter Schröder, Rostock im September 2004, Text zitiert aus Katalog >>SILBERGARTEN<<, 2004

 

 

Für mich liegt hier im Jahre 1998 der Ursprungsort für mein Thema SILBERGARTEN, Foto: Archiv

 

Der Parc André Citroën ist eine futuristisch anmutende Parkanlage im Pariser 15. Arrondissements auf dem Gelände der ehemaligen Citroën-Automobilfabrik am Ufer der Seine . Am seitlichen Flügel der Anlage entdeckte ich einst einen weißen, schwarzen, roten, blauen und eben jenen silbernen Garten. Betonwände rahmen diese Gärten. Eingewinkelte Oasen mit entsprechend farbigen Gräsern und Sträuchern. Verwaist und eigentlich sehr unromantisch entfaltet sich hier und da der spröde Charme der Moderne.  Dennoch unerwartet eine Insel für fliegende Gedanken.