>> Die Geläufigkeit der Utopie

Woher käme denn die Zukunft, wenn sie nicht fortwährend aus Gegenwarten zu gerinnen pflegte?

Und die Gegenwart? Eine sich höchst verdächtig machende Konstruktion aus nicht gewußtem Vergangenem und womöglich spekulativ erwünschtem Kommenden? Pustekuchen!

Die Zukunft hustet uns was, und die Vergangenheit lacht sich eins in`s unaufkrallbare Fäustchen!

Wie also weiter, tiefer, höher schneller, genauer? Geschichte häufelt nichts an, bloß weil die Jahreszahlen höher werden!

Die Zeit ist launisch; sie will und will und will nicht vergehen – wenn uns fad` ist. Warum will sie nicht? Ist sie bockig? Oder ist sie launisch und zickig, wenn sie flugs, eilendst und wie im Flug vergeht?

In angehaltenem Zustand – möchten wir das? Vermöchten wir`s? – da hat die Zeit auch Würde: ihr entgeht nichts und nichts läßt sie links liegen, bloß weil eine opportunistische Gegenwart das mal so schnell so möchte! Dann wäre „Zeitgeist“ zum kurzen Moment verkommen, wenn man aus dem Kino kommt oder einen dollen Clip bei MTV gesehen hätte…

Wenn ein Maler es weit bringen will, organisiert er nicht das Nächstliegende, macht keine wilden Sprünge, verspekuliert sich nicht. Am nächsten liegt allemal das Utopische – und nicht das kleine Trittbrett vor den Fuß- und Pinselspitzen. Auf Trittbrettern ist nicht gut fahren; man muß die künstlerische Irreführung vermeiden, die das Abgebildete mit der Abbildung verwechselt.

Und da es nichts Wahrnehmbares gibt, was nicht auch lesbar wäre (Franz Mon), so kann es auch kaum Sichtbares geben, was nicht auch wiedererkennbar wäre.

Wie nahe ist Cy Twombly der Raffael`schen „Schule von Athen“? Steht dieser Kritzel wirklich für Platon – und jener Krakel für Aristoteles?

Wieso darf ein wundervoller Rotwein (aus dem südlichen Burgund zum Beispiel) nach „Veilchen“ oder „Brombeeren“ duften – wo doch beileibe weder Veilchen noch Brombeeren mit gekeltert worden wären?

Und wieso sieht und sah man bei Wolfgang Tietze Fisch-Formen und Gläser-Silhouetten, ohne daß er den Post-Kubisten sich zurechnen ließe? Wahrheit wird hochgespült, wo ehedem nur Wirklichkeit war. Wolfgang Tietze gewinnt nicht Malerei aus dem Schrott des Ehemaligen, obwohl er sich demgegenüber stets respektvoll verhält und nicht kaltschnäutzig.

Was wiederkehrt ist nicht von der Art, daß es nie gewußt werden konnte. Andererseits wissen wir viel im Heute der Kunst, das uns geläufig scheint. Die Selbstverständlichkeit des Folgerichtigen – und die Geläufigkeit der Utopie.

Die Bilder Tietze`s haben selten eine „Mitte“, sind selten zentral – komponiert. Da gewinnt etwas – irgendwo – auf dem Bild an Kraft und Energie, sei es graphisch-knäuelig, sei es beruhigt farbflächig. Das strahlt aus, begibt sich in andere Aggregatzustände und verflüchtigt sich auch mal. Prozessuales waltet da; da „wird“ etwas, indem es sich seines eigenen Gelungenseins begibt – ohne sich etwas zu vergeben. Nichts geht verloren. „Werden“ als grundsätzliche Befindlichkeit. Da gibt es keine selbstsicheren Gesten, die uns was vormachen, gar zeigen wollen; da sind Gesten, die ihre Aufrichtigkeit suchen, ihr Echo und ihr Fortkommen.

Welch schöner Zufall (gibt es den?), daß durch diese Ausstellung und diesen Katalog auch ein Geburtstagsständchen für Giambattista Tiepolo (1696 – 1770 ) zu hören ist oder zu hören sein sollte! Die Kerzen sind in den 300 Jahren nicht heruntergerbrannt, haben keinerlei Altehrwürdigkeit. Was brennt da noch?

Das ist hier die bestürzende Aktualität der Vor-Moderne: keine lineare Lesbarkeit (und Ablesbarkeit) von links nach rechts und von oben nach unten wie in unserem Kulturkreis üblich. Das Auge begibt sich auf lustvolle Wanderschaft über`s vermeintliche Chaotische. Innehalten und Fortschreiten – etwas definitiv setzten – und zugleich über den Rand schielen; ja, da liegt`s.

Bilder, die nie fertig werden, es sei denn, man habe sie gesehen.<<

Manfred de la Motte, Greifswald, Spätsommer 1996, Text zitiert aus Katalog >>WOLFGANG TIETZE<<, 1996, Kunstsammlung Neubrandenburg

 

 

Mit Manfred de la Motte auf der Insel Hiddensee 1996, Foto: H. Schwarz