>> Die Göttliche Komödie – Inspiration seit jeher

Dantes „Göttliche Komödie“ gehört zu den Texten, die den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit markieren. Der Ich-Erzähler durchwandert zunächst mit Vergil die eher „irdischen“ Gefilde des Höllentrichters und des Läuterungsberges, die – als Positiv- oder Negativform – sich quasi „geologisch“ zur Erde vereinen, danach mit der verherrlichten Beatrice den „Vorhimmel“, das Paradies, das nun ganz und gar nicht mehr irdisch ist, sondern Ähnlichkeiten mit dem noch weiter darüber liegenden Himmel hat. Hunderte von Zeitgenössinnen und -genossen werden in dieser Landschaft „verortet“, darüber hinaus jedoch – und das ist für uns wichtiger – wird sehr „realistisch“ geschildert und poetisch geformt.

Seit ihrem Erscheinen hat Dantes „Komödie“ (die Apotheose zur „Göttlichen“ vollzog erst Giovanni Boccaccio) die bildenden Künstler herausgefordert und zu außergewöhnlichen Leistungen inspiriert: Botticelli zur ersten Illustration der Buchausgabe der „Komödie“ (also: Geschichte mit gutem Ausgang, im Gegensatz zur Tragödie – „Komödie“ ist mitnichten ein Lustspiel im heutigen Sinne!), Flaxman und Koch im 18. Jhd., Blake und Doré im 19. Jhd., Bayros und Beisner im 20. Jahrhundert.

Nun haben wir mit Wolfgang Tietzes Blättern die maßgebliche Setzung schon in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts. Die größte Nähe besteht vielleicht noch zu Blake – auch ein Jahrhundertbeginner. Die Nähe wird allerdings weniger durch formale oder inhaltliche Strukturen definiert als vielmehr durch den interpretierenden Ansatz der beiden Künstler, der sich vom illustrierenden der übrigen genannten Kolleginnen und Kollegen kategorial unterscheidet (ganz deutlich wird das bei der jüngsten, bei Beisner).

Ist schon der Ansatz anders als der der illustrierenden Künstlerinnen und Künstler, so ist es die Ausführung noch mehr. Wer die Gesichtszüge der historischen Persönlichkeiten, die in rauhen Mengen in der „Komödie“ auftreten, im Vergleich zur zeitgenössischen Portraitmalerei wiedererkennen will, muß sich anderswo umschauen. Jedes einzelne Blatt ist unaufhebbar mit der „Komödie“ verknüpft, aber nur als Ausgangspunkt. Das fertige Blatt ist Neuschöpfung, Neudichtung, Neuerfindung.

Natürlich setzt die andere „Sprache“ schon den ersten Unterschied zwischen Dantes Text und Tietzes Blättern. Der eine Autor denkt und träumt in italienischer Sprache, der andere in deutscher. Beide denken zwar in Bildern, aber deren Manifestationen sind entweder mit dem Griffel oder mit dem Pinsel verfaßt. Dies interessiert uns aber weniger; viel wichtiger ist, daß wie Dante zur „Komödie“ Tietze zu seinen Blättern gehört. Die Darstellung geht nicht weg von der Person hin zum Text (Illustration), sondern genau umgekehrt: Wie bei einer lyrischen Schöpfung ist die Wahrnehmung des (bildenden) Künstlers im Text des schreibenden Kollegen der Anlaß zur höchst individuellen Äußerung.

Die verwendeten Techniken unterstützen das. Vom einfachen grafischen Tuschestrich bis zur malerisch gefüllten Fläche ist in den Blättern alles vertreten. Auch dies verdeutlicht den interpretierenden Ansatz; als Illustrator unterwürfe er sich einer größeren formalen Strenge und Einheitlichkeit, mindestens für den Einsatz der Technik… <<

Dr. Ulrich Rose, Greifswald 2010, Text zitiert aus Katalog >>Bilder zu Die Göttliche Komödie von Dante Alighieri <<

 

 

Dante (1265 –1321) Ausschnitt aus dem Fresko «Das Paradies» (entstanden 1336) > Giotto-Schule in der Magdalenen-Kapelle im Palazzo des Podestà Bologna, Florenz. Es handelt sich um das älteste erhaltene Porträt Dantes, der dort mit seinem Lehrer Brunetto Latini (ca. 1220–1294) inmitten der Signoren von Florenz dargestellt ist. Fotos: wikimedia commons, W. Sauber